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Auch mit 100 noch nicht müde
Wir werden jünger und älter zugleich
Babys von heute haben gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden, glauben renommierte Altersforscher:innen. Am Ende der Entwicklung sind wir aber keinesfalls. Stehen uns tatsächlich schon mehr Ressourcen für ein langes Leben zur Verfügung, als uns bewusst ist? Und gibt es überhaupt eine biologische Altersgrenze?
Den bisher ungebrochenen Altersrekord hält eine 1875 geborene Französin. Sie gilt als der erste Mensch, der das 122. Lebensjahr nachweislich vollendete. Die beiden Demografieforscher Michael Pearce und Adrian Raftery gehen aber davon aus, dass diese Bestmarke schon bald Geschichte sein könnte. Mittels statistischer Modelle hat das Duo berechnet, dass der bisherige Rekord zu 99 Prozent in diesem Jahrhundert gebrochen wird. Das methusalemische Alter von 130 halten sie in den nächsten Jahrzehnten für denkbar.
Die «natürliche Grenze»
Ein Forscherteam um den Wissenschaftler Timothy Pyrkov sieht das Patentrezept in der richtigen Mischung aus Genetik, Glück und gesundem Lebensstil. Besteht der persönliche Cocktail aus diesen Zutaten, ist ein Alter jenseits der 100 durchaus möglich. Doch dann stosse der Mensch an biologische Grenzen. Mit zunehmendem Alter nehme die sogenannte Resilienz ab, die es dem menschlichen Körper ermögliche, sich fortlaufend zu regenerieren. Zwischen 120 und 150 Jahren verschwinde diese Resilienz dann komplett. Dies stelle die «natürliche Grenze» der menschlichen Lebensspanne dar, schreibt Pyrkov in der Studie, welche er im Wissenschaftsjournal Nature veröffentlichte.
Aufregende technologische Fortschritte machen es heute schon möglich, das Altern umzukehren.
Revolution der Langlebigkeit
Eine radikal andere Sicht vertritt Sergey Young. Beim Gründer des Longevity Vision Fund (LVF) ist der Name Programm – sowohl beim Fonds als auch beim Nachnamen. Denn sein Ziel ist es, 200 Jahre alt zu werden. Der LVF ist ein Risikokapitalfonds, welcher in Technologien investiert, die das Potenzial haben, die Biowissenschaften und das Gesundheitswesen zu verändern. Young möchte bahnbrechende Entwicklungen im Bereich der Langlebigkeit beschleunigen und diese für alle zugänglicher sowie erschwinglicher machen.
Der «Altersvisionär» sieht uns an der «Schwelle zu einer Revolution der Langlebigkeit». Neue wissenschaftliche Entdeckungen und aufregende technologische Fortschritte machen es in seinen Augen heute schon möglich, das Altern umzukehren und bisher unheilbare Krankheiten zu behandeln. Es sei möglich, alte Zellen teilweise umzuprogrammieren, sodass sie ihre jugendliche Funktion wiedererlangen können – die zelluläre Reprogrammierung.
Wurde die Genschere CRISPR/Cas9 unlängst noch als brandheisse Methode zur Genomeditierung gefeiert, stehen wir laut Young und dessen Partnern bereits kurz vor der nächsten Stufe – «Prime Editing». Mit der neuen Generation der DNA-Bearbeitung können Forscher:innen möglicherweise mehr Arten genetischer Mutationen bearbeiten als mit dem derzeitigen «Stand der Technik» und so 89 Prozent der Krankheiten in den Griff bekommen.
Auch mit über 90 noch topfit?
Auch weitere Altersforscher*innen möchten nicht von Grenzen sprechen, wenn auch etwas gemässigter. Der renommierte amerikanische Demograf James Vaupel sagte kürzlich: «Im Moment deutet alles darauf hin, dass die maximale Lebenserwartung stetig steigen wird.» Der Alterungsprozess erweise sich als «plastisch» und es sei gut möglich, dass er durch neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Medizin weiter «modifizierbar» sei.
In dieselbe Richtung argumentieren auch andere Wissenschaftlerinnen. Gesunde Ernährung, weniger Alkohol- und Tabakkonsum, Fortschritte bei der Behandlung von Krebs-, Herz- und Kreislauferkrankungen lassen die statistische Lebenserwartung in den kommenden Jahrzehnten weiter deutlich ansteigen.
Zumindest jüngere Generationen müssen sich also auf ein sehr langes Leben einstellen. Der US-Forscher James Vaupel sagt: «Wäre ich Anfang dieses Jahrhunderts geboren, hätte ich gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden. Ich hätte ein sehr langes Leben vor mir, von dem ich wahrscheinlich 90 oder 95 Jahre in relativ guter Verfassung verbringen dürfte.» «No Future» hiess einst der Slogan der Punk-Bewegung der 1970erJahre. Die Jugend von heute müsste ihn in «Long Future» umbenennen.
Die Globalance-Sicht
Die Verlängerung unserer Lebenserwartung lädt zum Provozieren ein – philosophisch (Was tun mit dem gewonnenen Sein?) oder wissenschaftlich (Können wir den Planeten länger mit unserer Gegenwart belasten?). Eines ist sicher: Wir unterschätzen die Auswirkungen der höheren Lebenserwartung. Globalance plädiert dafür, die unmittelbar praktischen Fragen anzupacken: Trotz höherer Lebenserwartung unterscheidet sich das heute dominante Lebensmodell meist noch nicht von dem unserer Grosseltern (Ausbildung, Karriere, Familie, Pension). Gefragt ist beispielsweise eine Anpassung der Rahmenbedingungen von Arbeitsmodellen. Weiter sind Vorsorge, Wohnstrukturen, Bildungsangebote sowie die allgemeine Freizeitgestaltung zu überdenken.