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Donut-Ökonomie
Eine etwas andere Wirtschaftstheorie
Die Gleichung «Wachstum ist gleich Wohlstand» wird seit rund sechs Jahrzehnten als allgemeingültige Formel verwendet. Zweifelsohne bescherte uns diese Denkweise den gegenwärtigen Lebensstandard. Doch auch noch heute setzt unser Wirtschaftssystem Wachstum als feste Grösse voraus. Aber ist es nicht an der Zeit, das Wohlbefinden des Menschen ins Zentrum zu rücken?
Der Mensch verbraucht mehr Ressourcen, als die Erde regenerativ bereitstellen kann, und die soziale Ungleichheit verschärft sich zusehends. Ist der Weg des fortwährenden Wachstums in Wirklichkeit eine Einbahnstrasse und mündet diese womöglich in einer Sackgasse? Oder zwingt das ewige «höher, schneller, weiter» unseren Planeten gar vollständig in die Knie?
Wachstum und Wohlstand – ein untrennbares Paar?
Wenn die Wirtschaftsleistung wächst, verbessern sich zeitgleich die Lebensbedingungen, so die Annahme vergangener und heutiger Tage. Doch welchen Preis wir dafür bezahlen, spielt für viele eine noch untergeordnete Rolle. Der britische Ökonom Tim Jackson ist überzeugt: «In dem Masse, in dem wir es uns heute gut gehen lassen, graben wir systematisch dem guten Leben von morgen das Wasser ab.» Das Wirtschaftswachstum baut immer weiter auf dem instabilen Fundament der begrenzten Ressourcen auf. Jedes Jahr aufs Neue zeigt uns das immaterielle Mahnmal des Earth Overshoot Day auf, dass wir nahe daran sind, unseren Planeten irreparabel zu beschädigen.
Ist die Zeit reif, ein neues Kapitel der Ökonomie aufzuschlagen?
Letztes Jahr waren bereits am 29. Juli alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht, welche die Erde innerhalb eines Jahres wiederherstellen kann. Und können wir wirklich Wachstum mit breitem Wohlstand gleichsetzen, wenn im Jahr 2020 noch immer 811 Millionen Menschen weltweit an Hunger sowie zwei Milliarden an Mangelernährung litten? Insgesamt hatte jeder zehnte Mensch nicht ausreichend zu essen, während im selben Jahr 1.1 Prozent der Weltbevölkerung 45.8 Prozent des weltweiten Vermögens besassen. Ist die Zeit reif, ein neues Kapitel der Ökonomie aufzuschlagen? Brauchen wir ein neues Wirtschaften, das den Menschen und der Ökologie mehr Beachtung schenkt?
Brauchen wir ein Wirtschaftssystem, in welches die Natur eingebettet ist?
Hat es sich «ausgeBIPt»?
Ein Unternehmen mit der Marschroute «Alles bleibt wie gehabt» und «Das haben wir schon immer so gemacht» würde heute rasch aus der Zeit fallen. Aber das Nonplusultra der Massstäbe für wirtschaftliche Leistung in einer Volkswirtschaft darf eben diese Ausrichtung beibehalten. Ist das BIP nicht ein bisschen aus der Mode gekommen? Das Bruttoinlandprodukt mag die längste Zeit durchaus sinnvoll gewesen sein, doch heutzutage sollten auch die negativen Externalitäten berücksichtigt werden. CO2-Ausstoss, Umweltverschmutzung, Gesundheitsversorgung, Lebensqualität und soziale Aspekte werden nach wie vor ausgeklammert. Wenn die Landwirtin besonders viel Dünger verwendet, um eine grössere Ernte zu erzielen, steigt die Wirtschaftsleistung. Die Auswirkung des Phosphors auf das Grundwasser wird nicht miteinberechnet. Hinzugezählt werden aber nach wie vor jede Flugreise, jedes verkaufte Gramm Fleisch oder die Reinigungsdienstleistung nach einer Ölverschmutzung. Hinsichtlich Klimawandel, endlicher Ressourcen und sozialer Ungleichheit ist es doch äusserst fragwürdig, ob Wachstum allein der Indikator für Lebensqualität und Wohlergehen sein kann.
Bis 2030 wird die Zahl der Rinder in den USA um 50 Prozent sinken. Die Produktionsmengen der amerikanischen Rindfleisch- und Milchindustrie sowie der Zulieferer werden bis 2035 um fast 90 Prozent zurückgehen. Auch die Hersteller von Dünger, Pestiziden oder Landmaschinen werden diese Auswirkungen zu spüren bekommen. Es ist kein allzu grosses Wagnis, den Bankrott der Rinderzuchtindustrie vorherzusagen. Der geografische Wettbewerbsvorteil ist dann ebenfalls passé: Die grossen Exporteure tierischer Produkte wie USA, Brasilien oder Australien werden an geopolitischem Einfluss gegenüber Ländern verlieren, die derzeit von der Einfuhr dieser Produkte abhängig sind.
Bis 2035 stehen 60 Prozent des Landes, welches gegenwärtig in den USA für die Viehzucht und Tierfutterproduktion genutzt wird, für Neues zur Verfügung. Würden diese Flächen der Wiederaufforstung oder Regeneration von Böden und Pflanzen gewidmet, könnten alle derzeitigen US-Treibhausgasemissionen bis 2035 vollständig ausgeglichen werden. Ein Szenario aus der Kategorie «Es könnte so einfach sein».
Ein Kompass für die Zukunft?
Die Donut-Ökonomie – eine runde Sache
Wenn wir heute durch Zeitschriften blättern, lesen wir von Minimalismus sowie bewusstem Verzicht, wir können Achtsamkeitsseminare besuchen und bei Netflix lehren uns Aufräumexpert*innen, überflüssigen Kram auszusortieren. Hat sich die Definition gesellschaftlichen Wohlstands bereits gewandelt und steuern wir auf eine neue, bewusstere Konsumkultur zu? Vermutlich, denn die sogenannte «Donut-Theorie» der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth stiess vielerorts auf grosses Interesse. Nicht umsonst wurde ihr Buch «Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört» in 20 Sprachen übersetzt und beschäftigen sich Städte auf der ganzen Welt mit diesem Modell. Kate Raworth möchte sich von einem konstanten Maximierungsverhalten verabschieden und stattdessen ein Wirtschaftswachstum anstreben, welches die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen umfasst.
Im Inneren des Donuts wird eine Mindestgrenze gezogen und unter anderem das gesellschaftliche Fundament gelegt. Hunger und Armut gilt es zu verhindern, Zugang zum Gesundheitswesen und zu anständiger Bildung soll gewährleistet werden. Kurzum: ein sicherer, gerechter und menschenwürdiger Lebensraum.
Der äussere Rand stellt die begrenzten Ressourcenkapazitäten der Erde dar, der unser ökologisches Handeln auf ein gesundes Mass beschränken soll. Der Donut symbolisiert zudem das Gleichgewicht von Politik, Wirtschaft und Ökologie.
Nicht wenige betrachten die Donut-Ökonomie als «Kompass für die Zukunft». Deshalb bietet Kate Raworth mit dem «Doughnut Economics Action Lab» (DEAL) eine Beratung an, um interessierten Kreisen die Umsetzungsmöglichkeiten nahezubringen.
Abschied von Maximierungs-verhalten: ein Wirtschaftswachstum anstreben, welches die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen umfasst.
Donuts made in Amsterdam
Die niederländische Grachtenstadt hat inmitten der Corona-Krise verkündet, sich mit dem Donut-Modell zu beschäftigen, weil sie eine soziale Kreislaufwirtschaft anstrebt. Recyceln, reparieren und teilen: So lautet die künftige Devise. Es wird vermehrt auf Wiederverwertung statt auf Neuproduktion gesetzt. Amsterdam konzentriert sich auf Lebensmittel, organische Abfälle, Konsumgüter sowie auf den Bausektor. Beispielsweise werden ab 2023 Neubauten an der öffentlichen Infrastruktur zirkulär durchgeführt und ab 2025 wird dies auch die Renovierungen betreffen. Biobasierte Baustoffe werden heute schon verwendet. Der Verbrauch primärer Rohstoffe soll bis 2030 halbiert und bis 2050 vollständig aus Amsterdam verbannt werden. Das Ziel: «eine Stadt ohne Abfall», das Loslösen der Abhängigkeit von globalen Lieferketten und neu geschaffene Arbeitsplätze. Nicht nur Amsterdam liess sich von der Donut-Theorie inspirieren, sondern auch Philadelphia, Portland und Brüssel arbeiten mit dem City-Konzept des Thinktanks «Doughnut Economics Action Lab» zusammen.
Die Umwelt benötigt Preisschilder.
Homo oeconomicus vs. Homo Donut
Das Konzept mag nicht jedem schmecken. Zu gross ist die Sorge vor einem «Nullwachstum», welches in den Augen vieler Ökonom*innen in der heutigen Wirtschaft keine Option darstellt. Ohne Wachstum sehen sie den ersten Dominostein der Unternehmensverluste fallen, welcher Arbeitsplätze und den Sozialstaat ins Wanken bringen könnte. Ein Übergang in eine neue Wirtschaftsordnung ist mit vielen Risiken verbunden – das wissen auch die Verfechter*innen unkonventioneller Modelle. Was aber nicht impliziert, dass das aktuelle System des maximalen Wachstums als alternativlos betrachtet werden muss.
Doch in einer Sache sind sich am Ende fast alle einig: Die Umwelt benötigt Preisschilder. Von einer Konsumsteuer über Lenkungsabgaben bis hin zu Obergrenzen für Emissionen wird einiges an Vorschlägen in den Ring geworfen – in dem seit Kurzem auch ein Donut liegt.