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Ein Tutor, der nie müde wird

Ein neuer Tutor hat das Schulzimmer betreten: künstliche Intelligenz. Sie ermöglicht personalisiertes Lernen – doch was bedeutet das für Schulen, Lehrpersonen und Lernende?
Stellen Sie sich eine Schule vor, in der jede Schülerin und jeder Schüler einen Tutor hat – immer erreichbar, individuell abgestimmt, nie gestresst. Was nach Science-Fiction klingt, ist näher an der Realität, als viele denken. Unternehmen wie Khan Academy oder Microsoft Education entwickeln KI-gestützte Lernsysteme, die Wissen passgenau vermitteln und sich dem persönlichen Lerntempo anpassen.
«Früher mussten Lehrmittel für alle gleich funktionieren. Heute können wir Wissen auf jedes Kind zuschneiden», sagt Pierre Dillenbourg, Professor für Lerntechnologien an der EPF Lausanne. KI-Tutoren analysieren, was Schülerinnen und Schüler bereits verstehen und wo sie Schwierigkeiten haben. Sie passen Aufgaben an, schlagen alternative Erklärungen vor und geben sofort eine Rückmeldung. «Gerade in Mathematik oder Sprachen kann das enorme Vorteile bringen.»
KI unterstützt nicht nur das klassische Lernen, sondern auch Bereiche, die bisher schwer messbar waren. Ein Beispiel ist Dynamilis, ein KI-gestütztes System zur Handschriftanalyse, das Dillenbourg mitentwickelt hat. Es erkennt feinste Bewegungsmuster, die dem menschlichen Auge entgehen, und hilft, motorische Schwierigkeiten frühzeitig zu identifizieren und gezielt zu trainieren. Doch Lernen ist mehr als das Abrufen von Wissen. Kann KI auch kritisches Denken und Kreativität fördern?

Lehrerinnen und Lehrer als Lerncoaches
KI verändert die Rolle der Lehrpersonen – macht sie aber nicht überflüssig. «Gute Lehrpersonen sind keine Wissensvermittler, sondern Lerncoaches», sagt Dillenbourg. Sie stellen die entscheidenden Fragen, regen zum Nachdenken an und motivieren die Schülerinnen und Schüler.
Eine bekannte Bildungsstudie zeigt: Lernfortschritte hängen stark von der Erwartungshaltung der Lehrperson ab. Kinder, denen man etwas zutraut und die anspruchsvolle Aufgaben bekommen, schneiden messbar besser ab. «Ein Chatbot kann die richtigen Antworten geben – aber er glaubt nicht an dich», fasst Dillenbourg zusammen.
KI kann Lehrkräfte aber entlasten, etwa durch automatisierte Korrekturen oder personalisierte Übungen. So bleibt mehr Zeit für die eigentliche Aufgabe: Kinder nicht nur auf Prüfungen, sondern auf das Leben vorzubereiten.
Selbstreguliertes Lernen wird unterschätzt
Doch nicht alle Lernenden profitieren automatisch von KI. Ein entscheidender Faktor ist die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen – also die Fähigkeit, sich selbst Ziele zu setzen, den Lernfortschritt zu kontrollieren und sich selbst zu korrigieren.
«Wer nicht weiss, wie man sinnvoll lernt oder sich selbst strukturiert, wird auch mit KI keinen Erfolg haben», sagt Dillenbourg. KI könne zwar Vorschläge machen, aber nicht die Eigeninitiative ersetzen. Hier bleibt die Rolle der Lehrpersonen entscheidend: Sie müssen die Lernenden dabei unterstützen, eigenständiges Lernen zu entwickeln, damit sie mit digitalen Werkzeugen umgehen können.
Technologie als Chance – aber für wen?
KI-gestützte Bildung könnte vor allem dort helfen, wo Lehrerinnen und Lehrer fehlen – etwa in abgelegenen Regionen oder in Entwicklungsländern. Doch Dillenbourg weiss: «Bildungsgerechtigkeit entsteht nicht automatisch.» Wer heute keinen Zugang zu guten Schulen hat, habe oft auch keinen Zugang zu digitalem Lernen.
Während Unternehmen wie OpenAI oder Google Education Milliarden in die Entwicklung von KI-Tutoren investieren, bleibt unklar, wie Schulen die Technologie sinnvoll integrieren – und finanzieren – können. Denn KI ist nicht kostenlos: Sie benötigt nicht nur enorme Rechenleistung und Energie, sondern auch technologische Infrastruktur und geschulte Lehrpersonen.
Ein Chatbot kann die
richtigen Antworten
geben – aber er glaubt
nicht an dich.Pierre Dillenbourg – Professor für Lerntechnologien, EPF Lausanne
Zwischen Algorithmus und Empathie
Die Schule der Zukunft wird nicht von Algorithmen allein gestaltet. KI kann Lernprozesse optimieren und Lehrkräfte unterstützen – aber sie wird den Menschen nicht ersetzen.
Lernen ist mehr als das richtige Ergebnis. Es bedeutet, auszuprobieren, Fehler zu machen, Fragen zu stellen und Neues zu entdecken. Denn letztlich lernt der Mensch nicht nur aus Daten. Sondern aus Erfahrung, Begegnung und echter Neugier.
Dillenbourg bringt es pragmatisch auf den Punkt: «Seit Jahrzehnten wird eine Bildungsrevolution prophezeit. Aber die Schulzimmer sehen heute noch fast genauso aus wie vor hundert Jahren. KI wird die Bildung weiterentwickeln – aber nicht über Nacht revolutionieren.»
Drei smarte KI-Tutoren
KHANMIGO (KHAN ACADEMY)
Dieser Tutor hilft Schülerinnen und Schülern, selbstständig zu denken, statt nur
Antworten zu liefern. Besonders stark in Mathematik und Naturwissenschaften.
SOCRATIC (GOOGLE EDUCATION)
Eine weit verbreitete App, die Lernenden hilft, Antworten und Erklärungen zu finden. Damit bietet sie niederschwelligen Zugang zum Lernen mit KI. Die Funktionalität wurde Anfang 2025 in Google Lens integriert.
MICROSOFT READING COACH
Speziell für Sprach- und Leseförderung entwickelt: Erkennt Fehler beim Vorlesen und gibt direktes Feedback zu Aussprache und Betonung.
Montessori-Schule:
Mit den Händen lernen, nicht mit Algorithmen
Montessori-Schulen fördern selbstständiges, erfahrungsbasiertes Lernen. Im Mittelpunkt steht das Kind – mit seinem individuellen Tempo, viel Bewegung und praktischem Erleben statt Frontalunterricht. «Kinder brauchen echte, haptische Erfahrungen, bevor sie in die digitale Welt eintauchen», sagt Martin Schmidt, Schulleiter Primarstufe der Montessori-Schule Rietberg.
Montessori fördert das Lernen durch Anfassen: Rechnen mit Perlenketten, Schreiben mit Sandpapierbuchstaben, Begreifen durch Erleben. «Technologie hat ihren Platz – aber erst, wenn die Grundlagen gelegt sind.»


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