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Wird die Natur zur «Person»?
Weshalb auch die Umwelt ein Recht auf Rechte hat
Die Warnungen der Wissenschaftler*innen ertönen immer lauter – zu erheblich ist der Verlust biologischer Vielfalt. Zu lange haben die Menschen die natürlichen Ressourcen ausgebeutet. Und noch immer werden Ozeane, Wälder, Böden und Ökosysteme in den meisten Rechtsordnungen als blosse Objekte angesehen. Doch was wäre, wenn wir der Natur eine rechtliche Stimme verliehen?
Der Mensch versteht sich als Mittelpunkt der weltlichen Realität, obwohl er nur 0.01 Prozent der Biomasse der Erde ausmacht. Die ungleiche Beziehung zwischen Natur und Mensch sowie die daraus resultierenden Umweltschäden sind laut UNO zur grössten Bedrohung der globalen Sicherheit geworden.
Der Mensch zu sehr im Zentrum
Heute kann der Mensch als natürliche und ein Unternehmen als juristische Person klagen. Was wäre, wenn Tiere, Pflanzen, Landschaften und abstrakte Umweltgüter ein subjektives Recht erhielten und über Vertreter*innen wie Umweltverbände oder Anwaltskanzleien vor Gericht ziehen würden? Somit dürfte ein verschmutzter Fluss in seinem Namen klagen, um für die Wiederherstellung seines Ökosystems entschädigt zu werden.
Bienen & Co. schulden wir jährlich 153 Milliarden Euro.
Die indigenen Völker machen es uns vor
Das Beispiel mit dem Fluss mag abwegig klingen. Doch bereits im Jahr 2017 haben vier Flüsse ihre Rechte eingefordert – der Whanganui River in Neuseeland, der Río Atrato in Kolumbien, der Ganges und die Yamuna in Indien. Der neuseeländische Fall ist besonders aussergewöhnlich, da das Parlament gar zwei Hüter des Flusses ernannte. Dieses Konzept der rechtlichen Vormundschaft adaptierte Kanada im Februar 2021. Der Magpie River erhielt nach zwei Beschlüssen des Innu-Rates von Ekuanitshit und der Grafschaftsgemeinde Minganie neun Persönlichkeitsrechte, die von Verantwortlichen kontrolliert werden.
Vor allem bei indigenen Völkern haben die Elemente der Natur einen hohen Stellenwert. Sie stehen häufig im Mittelpunkt von Kulten und Ritualen. So verwundert es kaum, dass in Ecuador schon vor 14 Jahren die Natur als Rechtssubjekt und der indianische Ausdruck «Pacha Mama» in die Verfassung aufgenommen wurden. Im Artikel 72 steht seit 2008: «Pacha Mama – Mutter Erde, in der sich das Leben verwirklicht – hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden.» Einige Jahre später nahm auch Bolivien den Schutz und den Erhalt der Umwelt als «öffentliches Interesse» in die Verfassung auf. Sie schrieb damit der Bevölkerung das Recht einer «gesunden und ökologisch ausgeglichenen Umwelt» zu.
Aufgrund dieser Vorreiter-Entwürfe müssen sich immer mehr Länder mit Sammelklagen besorgter und verärgerter Bürger*innen beziehungsweise Stellvertreter*innen der Natur auseinandersetzen. Erst kürzlich untersagte der Oberste Gerichtshof Pakistans den Bau neuer Zementwerke in ökologisch gefährdeten Gebieten. Die Urteilsbegründung stützte sich darauf, dass der Mensch und seine Umwelt einen Kompromiss zum Wohl beider eingehen müssen, und diese friedliche Koexistenz fordere, die Umweltobjekte als Träger von Rechtsansprüchen zu behandeln.
Bereits 2017 haben vier Flüsse ihre Rechte eingefordert.
Nichts ist umsonst
Ökosystemdienstleistung. Dieser unhandliche Begriff beschreibt sämtliche Dienstleistungen, welche die Natur ausübt, ohne dafür Rechnung zu stellen. Saubere Luft, trinkbares Wasser, nachwachsende Rohstoffe, aber auch Verhinderung von Erosionen durch tief wurzelnde Pflanzen oder alle erdenkbaren Bestäubungstätigkeiten. Für Letztere schulden wir Bienen, Hummeln und Co. eigentlich jährlich eine unglaubliche Summe von EUR 153 Milliarden – so die Berechnung des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung.
Immer mehr politische Institutionen beauftragen Wissenschaftler*innen, die Gesamtleistung zu ermitteln. Denn die letzte Erhebung für den globalen wirtschaftlichen Nutzen aller natürlichen Dienstleistungen bezieht sich auf das Jahr 2011. Zur besseren Einordnung des «Gesamtpreises» in Höhe von USD 125–145 Billionen ist diese Zahl aber auf jeden Fall nützlich. Wie sehr wir auf die «kostenlosen» Tätigkeiten angewiesen sind, zeigt sich im aktuellen Bericht des Weltklimarats. Der Begriff «Ökosystemdienstleistung» erscheint im 4’000-seitigen Dokument mehrere Hundert Mal.
Eine Koalition aus mehr als 50 Ländern hat sich dem 30×30-Ziel verschrieben – bis 2030 sollen 30 Prozent des Planeten unter Naturschutz stehen. Hierfür greifen nun auch einige sehr wohlhabende Privatpersonen tief ins Portemonnaie. Der Wert der Artenvielfalt ist immens und allmählich wird dafür auch bezahlt. Auf die Stimme der Natur zu hören, ihr weiter Gehör zu verschaffen und zudem Rechte einzuräumen, «zahlt» sich allemal aus.
Die Globalance-Sicht
Die adäquate Bewertung der Umwelt ist ein Grundprinzip unserer «Globalance Footprint®»-Methode zur Bewertung von Finanzanlagen. Wir korrigieren damit in unseren Szenarien teilweise das Marktversagen, welches in fehlender Rechtspersönlichkeit und einem zu tiefen ökonomischen Wert der Natur resultiert. Wer langfristig Vermögen entwickeln will, muss antizipieren, dass Politik und Gesellschaft die Kostenwahrheit einfordern werden. Zukunftsfähig zu investieren heisst, einen Beitrag zum Werterhalt der Natur zu leisten.